[Rezension] Mein Bruder heißt Jessica



Titel: Mein Bruder heißt Jessica
Autor: John Boyne 
Preis: € 14,00 (HC), € 10,99 (EB)
Seitenanzahl: 256 
Genre: Jugendbuch
Reihe: Einzelband
Meine Wertung: 4,5/5 Hühnchen 




Story: 

Als Einzelgänger hat Sam Mühe, Freunde zu finden, und seine vielbeschäftigten Eltern geben ihm oft das Gefühl, unsichtbar zu sein. Zum Glück war sein älterer Bruder Jason immer für ihn da. Der ist nett, beliebt, supergut im Fußball, und die Mädchen stehen Schlange für ein Date. Doch eines Tages teilt Jason seiner Familie mit, dass er schon seit langem mit einem Geheimnis kämpft. Ein Geheimnis, das bald alle auseinanderzureißen droht. Seine Eltern wollen nichts davon wissen, und Sam versteht es einfach nicht. Denn was machst du, wenn dein Bruder dir sagt, er ist überhaupt nicht dein Bruder, sondern deine Schwester?

 
Meine Meinung: 

Mir hat das Buch extrem gut gefallen. Die ganze Art, wie die Geschichte erzählt wurde war einfach toll und meiner Meinung nach auch sehr realistisch, auch wenn ich inzwischen Rezensionen gelesen habe, die das anders darstellen. Zu diesen Rezensionen möchte ich aber sagen, dass ich den Eindruck habe, dass die Leute das Buch wohl nicht verstanden haben bzw. drei davon haben sogar zugegeben, dass sie das Buch überhaupt nicht gelesen haben, es also einfach so verurteilen. Die Kritik in diesen Rezensionen ist immer wieder dieselbe: Es ist die Geschichte eines cis Jungen, der respektlos mit dem Thema umgehe und sowieso würden einige Fehler gemacht werden, die trans* Personen diskriminieren würden (Deadname, falsche Pronomen etc.). Und ja, das stimmt, aber genau darum geht es ja! Es geht in dieser Geschichte nicht um Jessica, sondern um Sam und der ist ein Kind, das seinen großen Bruder über alles anhimmelt, Angst hat, diesen zu verlieren oder, dass ihm etwas schlimmes passiert, und keine Ahnung hat, was Transgender überhaupt bedeutet. Ja, Sam sagt auch noch nach Jessicas Outing weiter "mein Bruder Jason" und "er" und ja, er verletzt Jessica mit seinen Worten und seinem Unverständnis, das kommt auch ganz deutlich rüber. Aber es ist nicht nur Jessica, die in dieser Geschichte einen Prozess durchlebt, sondern eben auch Sam. Natürlich ist dieser nicht so gravierend und sicher auch nicht so belastend, auch das wird in der Geschichte immer wieder betont, aber trotzdem hat Sam nunmal diese Gefühle und Fragen und darum geht es in dieser Geschichte. Es geht darum, wie Sam es erlebt, dass sein Bruder nicht sein Bruder ist, sondern seine Schwester. Sam ist ein Kind, er weiß wenig über das Thema, seine Eltern sind keine Hilfe und Jessica ist verständlicherweise zu sehr mit sich selbst beschäftig, um Sam alles zu erklären. Daher macht Sam Fehler, er trifft falsche Entscheidungen, sagt die falschen Dinge und versteht vieles nicht, weil ihm Informationen und dadurch das nötige Verständnis fehlen. Er liebt seinen großen Bruder über alles und er braucht Zeit, um zu verstehen, dass Jessica auch als seine Schwester noch immer dieselbe Person ist. Und das ist normal. Natürlich wäre es schöner für alle trans* Personen, wenn das Umfeld sofort alles versteht und als erwachsener Mensch kann man auch nach außen das nötige Verständnis aufbringen, während man innerlich für sich alles verarbeitet und noch besser ist es natürlich, wenn das Verständnis gleich vollkommen da ist. Aber ein Kind, das noch nie Berührungspunkte mit dem Thema hatte und mit dem auch nicht wirklich gesprochen wird, braucht länger, macht Fehler, stellt vielleicht indiskrete Fragen, ohne es zu merken. Aber sind wir mal ehrlich, einige Fragen, die Kinder stellen, würden wir oft auch gerne selbst stellen, uns ist nur klar, dass wir damit eine Grenze überschreiten, also lassen wir es.
Wir leben inzwischen in einer Zeit, in der immer alle Verständnis wollen und das ist auch richtig und wichtig, denn jeder Mensch muss mit seinen Gefühlen und Gedanken wahr- und ernstgenommen werden, aber auch wirklich jeder Mensch. Auch die Menschen, die etwas nicht verstehen, die länger brauchen oder denen das nachempfinden schwerfällt müssen ernstgenommen werden, sonst können sie ihr Unverständnis niemals ablegen. Man muss ihnen zuhören, ihnen ihre Sorgen und Ängst nehmen und ihre Fragen beantworten, sonst verfangen sie sich immer mehr darin. Es bringt nichts jemanden immer gleich zu canceln, wenn die Person einen Fehler gemacht hat. Man muss mit ihr darüber reden, sie darauf aufmerksam machen und rausfinden, wieso die Person dachte, dass sie im Recht wäre, statt sie deswegen fertigzumachen und zu verurteilen. Oft passieren diese Fehler nicht aus bösem Willen, sondern aus Unwissenheit. Und hoffentlich leben wir irgendwann in einer Welt, in der es gar nicht erst für Verwirrung sorgt, wenn jemand feststellt, dass ihm oder ihr bei der Geburt ein falsches Geschlecht zugewiesen wurde. Oder noch besser in einer Welt, in der es überhaupt keine heteronormative Geschlechtseinteilung mehr gibt.
Also wieder zurück zum Wesentlichen: Ich finde, dass dieses Buch sehr realistisch die Gefühlswelt eines Jungen darstellt, der verstehen lernen muss, dass sein großer Bruder Jason, seine große Schwester Jessica ist. Er macht dabei Fehler und auch die Erwachsenen in der Geschichte machen Fehler, das ist normal, auch wenn es schön wäre, wenn es nicht normal wäre, aber das ist es. Auch wenn die Gefühlswelt von Jessica die komplexere und wichtigere in diesem Moment ist, haben auch die Menschen in ihrem Umfeld Gefühle, Fragen und Weltbilder, die sie neu ordnen und verstehen lernen müssen und das können diese Menschen nicht abschalten.
Natürlich wäre es auch interessant gewesen, Jessicas Sicht zu lesen, aber wenn man das Buch gelesen hat - und nicht einfach Rezensionen schreibt, in denen man es verurteilt, ohne der Geschichte eine Chance zu geben - dann liest man auch das Nachwort, in dem der Autor erklärt, dass er die Geschichte nicht aus Jessicas Sicht hätte schreiben können, weil er selbst diese Gefühle nie hatte und daher auch nicht beschreiben könnte, aber er war auch mal ein Kind, ein Kind, das irgendwie anders war als andere und daher erzählt Sam die Geschichte. Wenn man selbst nie in einer bestimmten Situation war, dann ist es umso schwerer, andere Personen in dieser Situation zu verstehen. Man kann in diesem Fall auch niemals die gesamte Gefühlswelt verstehen. Aber man kann nah rankommen, wenn man redet. Und auch das ist etwas, das in dieser Geschichte sehr gut rüberkommt. Schweigen ist nie die Lösung, für niemanden.
Mein einziger Kritikpunkt ist, dass das Ende zu schnell abgehandelt wurde. Das war mir zu einfach und mir hat nochmal ein Gespräch gefehlt.
Von mir aber auf jeden Fall eine Empfehlung, wenn man nicht mit falschen Erwartungen an das Buch herangeht.

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